»Das Herz sitzt über dem Popo. –
Das Hirn überragt beides.«
Joachim Ringelnatz
In Ringelnatz‘ Leben gab es kaum etwas, das seinem Dichterdrang entging: Der liebsten Nase und der Nachttopf, Topf und Pfanne, Badewanne, Schuhe und Liebeskummer, Sauerampfer und Seifenblase. Das lyrische Ich war überall dabei. Das nährt die Lust, auch das eigene Leben, die eigene Erfahrung schreibend zu betrachten und zu verarbeiten. Deshalb lud der Joachim-Ringelnatz-Verein Wurzen e.V. von April bis November 2022 zu einer Schreibwerkstatt ein, der Ringelnatz‘ Gedicht „Nie bist Du ohne Nebendir“ als Namenspate dient.
Zum Geleit:
Umgetrieben von den auch in Wurzen spürbaren Prozessen gesellschaftlicher Spaltung und Atomisierung initiiert der Ringelnatzverein im Jahr 2022 eine Werkstatt der Begegnung unter dem Motto Nie bist du ohne Nebendir, geleitet von der Schriftstellerin, Musikerin und Literaturvermittlerin Uta Hauthal aus Dresden. Am 14.5.2022 treffen wir uns zum ersten Mal im Haus Seepferdchen in Wurzen und außer dass es vor allem um biographisches Schreiben im Geist von Ringelnatz gehen soll, wissen wir alle noch nicht, wohin uns der Weg führen wird.
Mit kreativen Übungen und Schreibspielen beginnen wir uns kennenzulernen, wir nähern uns unserem inneren schöpferischen Fluss durch intuitives Schreiben, wir üben verschiedene Perspektiven und Formen (z.B. den Metaphorischen Schattenriss oder das Elfchen) und bei all dem bleibt auch immer Raum zum mündlichen Erzählen, denn es geht um die erlebten, prägenden Geschichten des Einzelnen. Schnell wird klar, dass wir ganz unterschiedliche Erinnerungen in uns tragen, was auch, aber nicht nur mit den Lebensaltern der TeilnehmerInnen zu tun hat: die Jüngste ist 15, die Älteste 81, die Anderen befinden sich in ihren 30ern, 40ern, 50ern und 60ern.
In den folgenden Werkstätten, die 1x monatlich stattfinden, nähern wir uns schreibend wichtigen Erfahrungen in der Kindheit oder überraschenden Wendungen in unserem Leben, wir tauschen uns aus über Vorlieben und Interessen, wir lesen einander vor und werten gemeinsam aus. Zu unserem Erstaunen zeigt sich dabei, dass es Themen und Erfahrungen gibt, die jenseits konkreter biographischer Kontexte durchaus ähnlich oder sogar gleich sind.
Am berührendsten aber sind jene Momente, in denen uns durch das gemeinsame Arbeiten eine Tür geöffnet wird, von deren Existenz wir bisher keine Ahnung gehabt haben. So stellt zum Beispiel die 15jährige Rosalie fest, dass bisher Geschichte in der Schule für sie ein ausgesprochen trockenes, uninteressantes Fach gewesen ist, nun aber, da sie den Nachkriegs- und Vertriebenen-Erfahrungen von Gisela zuhört, wird für sie die Vergangenheit lebendig und greifbar. Eine andere Lebendigkeit erzeugt Claudia, die Episoden des DDR-Alltags konsequent aus der Perspektive eines jungen Mädchens zu Papier bringt und damit uns allen das kindliche Erleben in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext zeigt. Steffi bereichert unseren Kreis mit farbigen Schilderungen aus ihrem geliebten Garten, in dem sie täglich tätig ist, eine Liebe, die Mario teilt, der sich zudem beruflich neu orientiert hat und nun mit einer pädagogischen Ausbildung sowie Gruppenangeboten in der Natur viel mehr seiner inneren Stimme folgt als zuvor. Zudem zeigt sich, dass ich als Leiterin und zwei weitere Teilnehmerinnen eine intensive biographische Verbindung zu Dresden haben, was uns auch der Frage nachgehen lässt, inwieweit sich Entwicklungen in der sächsischen Landeshauptstadt und Wurzen ähneln. Anhand unserer eigenen Erfahrungen erscheinen uns manche politischen Entscheidungsprozesse sowie der Umgang mit Brüchen in der Geschichte durchaus zu gleichen.
Durch den ehrlichen, intensiven Kontakt entsteht von Monat zu Monat immer mehr etwas sehr Kostbares: ein gemeinsamer Raum, in dem Jeder so sein kann wie er ist, weil das Werden oder Gewordensein des Einzelnen durch seine erzählten Geschichten nachvollziehbar, verständlich wird. Und noch etwas Anderes – ganz im Geist von Ringelnatz – verbindet uns: gemeinsames Lachen, inspiriert von Sprachspielen, Nonsens- oder ReihumGedichten wie z.B. diesem:
Die Sonne lächelt ins Museum von Wurzen
Wenn ich ein Eisbär wäre
Es ist nie zu spät
Da stand ich da und schaute wie Hans-Guck-in-die-Luft!
Die Sonne scheint und wir stehen vor der Tür.
So ist nun eine Sammlung von Texten entstanden, die diese Entwicklung bezeugen, die in ihrer thematischen wie formalen Vielfalt das gelebte Vertrauen atmen, die wahrhaftig sind und aus der Mitte des Lebens kommen. Ich danke allen TeilnehmerInnen für ihren Mut, sich in einen offenen, kreativen und emotionalen Prozess hineinzubegeben und damit für ihren Mut, sich aufeinander einzulassen mit allen Facetten, die dabei auftauchen.
Uta Hauthal (Werkstattleiterin)
Bei der öffentlichen Abschlussveranstaltung der Ringelnatz-Schreibwerkstatt, die am 19.11.2022 um 11 Uhr im stimmungsvollen Kontor des Wurzener Museums stattfand, lasen Teilnehmer der Werkstatt, der Ringelnatz‘ Gedicht „Nie bist Du ohne Nebendir“ als Namenspate diente, verschiedene eigene Texte, die in sieben Monaten gemeinsamer Arbeit entstanden sind. Texte mit großer Vielfalt, welche von sprachspielerischen bis hin zu autobiographischen Texten reicht. Werkstattleiterin Uta Hauthal führte moderierend durch die Matinee und improvisierte dazu auf dem Klavier.
Am 10. Juni 2023 trafen sich die Teilnehmer der Werkstatt zum Wiedersehen bei einem literarischen Spaziergang mit Uta Hauthal in Dresden.
Finanziert wurde die Werkstatt über den Mitmachfonds im Programm SIMUL des Freistaates Sachsen – eine Förderung, die den Wurzener Verein in seinem Wirken im Wurzener Land unterstützt.