»Das Herz sitzt über dem Popo. –
Das Hirn überragt beides.«
Joachim Ringelnatz
Der Winter kommt in diesem Jahr früh, mit viel Schnee und eisiger Kälte. Die kleine Familie hat zum Glück bereits im Herbst ein Zimmer gefunden, in das es nicht hineinregnet. Es liegt zu ebener Erde in einer Kaserne. Die Fenster, soweit sie nicht mit Brettern vernagelt sind, geben den Blick auf den Kasernenhof frei. Kein schöner Anblick, aber jetzt deckt der Schnee alles mildtätig zu.
Im Zimmer gibt es Möbel: einen Tisch, drei Stühle, für jeden ein Bett mit alten kratzigen Wehrmachtsdecken, die manches Brandloch haben, und sogar einen Schrank. Das alles hat der Vater nach und nach aus den Ruinen der völlig zerstörten Stadt geholt und irgendwie notdürftig instandgesetzt.
Das Wichtigste aber ist der kleine runde, gusseiserne Kanonenofen. Der ist ca. 1m hoch, steht 1m von der Wand weg und sein gebogenes Rohr leitet den Rauch durch die Zimmerwand nach draußen. Auf den Ofen kann man einen Suppentopf stellen. In unmittelbarer Nähe des Ofens wird es schnell warm, aber ebenso schnell kühlt es auch wieder aus. Alles in allem ist es ein komfortables Zuhause.
Und nun soll Weihnachten sein. Weihnachten, was ist das? Das kleine fünfjährige Mädchen weiß es nicht. Im Vorjahr hatten die Eltern das Überleben zu sichern; es konnte kein Gedanke daran verschwendet werden. Und das Jahr zuvor? In Luftschutzbunkern feiert man keine Weihnacht.
Die Mutter erzählt die Weihnachtsgeschichte – das Mädchen hört aufmerksam zu. Am Nachmittag bringt der Vater einen Weihnachtsbaum – na ja, es ist ein ziemlich zerrauftes Etwas, das aus irgendeinem Grund noch nicht in Wärme umgewandelt worden ist. Da der Vater ein Meister im Improvisieren ist, bohrt er dem Etwas ein paar Zweige ein und schon sieht es ganz passabel aus und kann als Weihnachtsbaum akzeptiert werden. Aus Zeitungspapierstreifen und irgendwelchem Kleister werden Ringketten geklebt. Das Mädchen macht eifrig mit. Vater und Tochter hatten schon Tage vorher Hindenburglichter aus den Ruinen gesammelt. Aus den Stearinresten und mit einem Docht gießt der Vater eine dicke Weihnachtskerze.
Das Beste aber steht auf dem Kanonenofen – ein Topf mit Suppe. Heute garen darin nicht nur Kohlrüben, sondern auch richtige Kartoffeln, gebräunte Zwiebeln und sogar angeröstete Speckwürfel. Die Mutter hat diese Köstlichkeiten mitgebracht. Die Offiziere der Roten Armee durften nach dem Sieg ihre Familien nachholen und die Mutter geht dort Wäsche waschen und sauber machen, wofür sie Lebensmittel bekommt und so die Familie über Wasser halten kann.
Seit einigen Monaten hat auch der Vater Arbeit. Er ist so etwas Ähnliches wie Hausmeister in der Kommandantur der Roten Armee und verdient richtiges Geld. Damit kann man auf dem schwarzen Markt Brot kaufen.
Und so gibt es an diesem Heiligabend nicht nur eine wohlschmeckende Suppe, sondern auch frisches Brot. Zugegeben, das Kommissbrot hat wohl mehr Kleie als Getreide, aber es schmeckt herrlich. Als alle satt sind – satt zu sein ist auch etwas Besonderes – gibt es für das Mädchen sogar ein Geschenk! Aus einem versteckten Winkel holt der Vater ein Buch: eine dicke Prachtausgabe von Wilhelm Busch. Das Buch ist in gelbes Leder gebunden und hat einen roten Lederrücken und leider auch einige Brandflecken. Die Seiten mit Max und Moritz und den anderen Buschfiguren sind unversehrt. Mutter muss vorlesen und das nicht nur an diesem Abend.
Zwei Jahre später, als die Familie nach Deutschland umsiedeln muss, wird das Mädchen das geliebte Buch nicht mitnehmen dürfen.
Aber zurück zum Weihnachtsabend: Der Kanonenofen erkaltet bald und Holz zum Nachlegen ist nicht mehr da. Alle kriechen in ihre Betten, kuscheln sich in die Decken und schauen auf die immer noch brennende Weihnachtskerze, bis sie erlischt. Satt, warm, zufrieden und glücklich schläft das Mädchen ein. Mitten in der Nacht hört die Mutter etwas rascheln und klappern. Es ist hundekalt im Zimmer. Das Mädchen ist aufgestanden und hat sich noch eine Stulle aus dem Brotkasten geholt. Was für ein Fest, an dem man so viel Brot essen kann, wie man mag!
Das Mädchen hat noch viele schöne Weihnachtsfeste erlebt, aber keins ist so in Erinnerung geblieben wie das des Jahres 1946.
Gisela Böttger
Der Joachim-Ringelnatz-Verein e.V. wurde 1992 in Wurzen (Sachsen) gegründet. Der Verein organisiert Kleinkunst, Ausstellungen, Vorträge, Lesungen und viele andere Veranstaltungen rund um Joachim Ringelnatz und dessen Geburtshaus in Wurzen sowie den alljährlichen RingelnatzSommer in Wurzen.
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