»Das Herz sitzt über dem Popo. –
Das Hirn überragt beides.«
Joachim Ringelnatz
Auf den Routen des reisenden Artisten Joachim Ringelnatz
Wettbewerb um Stadtgedichte findet Echo in 93 Städten im deutschsprachigen Raum
Wie verbindet man das Geburtshaus von Joachim Ringelnatz in Wurzen in der sächsischen Provinz mit all den Orten, wo der vielseitige und umtriebige Künstler letztlich wohnte, wirkte, auftrat und Spuren hinterließ. Wichtige Orte auf der Landkarte dieser Spuren sind München und Berlin, Hamburg und Wien, Stuttgart und Mannheim und viele mehr. 1927 hat Joachim Ringelnatz sich selbst mit „Briefe eines reisenden Artisten“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Vor allem Stadtgedichte, aber auch Reisebeobachtungen eint der Band.
Beim Literarischen Colloquium Berlin in Gestalt des Bundesförderprogramms „Und seitab liegt die Stadt“ fand der Joachim-Ringelnatz-Verein den finanziellen Rückenwind, auf besondere Weise die Spuren auf der Landkarte des reisenden Artisten sichtbar zu machen – als Lyrikwettbewerb mit der Bitte, des in Wurzen geborenen mit Gedichten aus der eigenen Stadt zu gedenken. Der als Partner gewonnene Literaturwissenschaftler Dr. Michael Ostheimer fügte der Spurensuche an Orten zunächst das literarische Vorbild hinzu: Peter Rühmkorf stand mit seinem Gedicht „Kringel für Ringel“ nicht nur mit einer literarischen Verbeugung Pate, er gab der literarischen Spurensuche auch den Namen „Kringel à la Ringel“. Überdies interessiert den Literaturwissenschaftler etwas, das er literarischen Echoraum nennt, die Wirkung der am Ort entstandenen Lyrik über fast einhundert Jahre seit Erscheinen der Reisebriefe in der Gegenwart des Ortes. Technisch modern ausgestattet suchte er alle in Ringelnatz‘ Reisebriefen lyrisch bedachten Städte auf und lauschte dem Echo von Ringelnatz‘ Texten im heutigen Umfeld nach. So entstanden als Reisespuren Videopodcasts, die für Instagram geschaffen wurden und auf YouTube nachzuschauen sind.
Mit Flyern und Postern mit dem Wettbewerbsaufruf war indessen reichlich Post aus Wurzen an Städte mit erhofften Ringelnatzspuren abgegangen, unterstützt von digitalen Formen, die das Schneeballprinzip der Verbreitung bestens beförderten. Vom Erfolg hing viel ab, soll doch die Dauerausstellung im Ringelnatz-Geburtshaus im nächsten Jahr auch anhand dieser Gedichte die Spurensuche auf der Landkarte des Wirkens von Ringelnatz zeigen und den literarischen Echoraum mit den Kringeln à la Ringel dauerhaft erlebbar machen.
Die Resonanz war großartig. 173 Dichterinnen und Dichter im gesamten deutschsprachigen Raum sandten Gedichte ein, manche mehrere, so dass am Ende 260 Werke in die Wertung durch die Jury eingingen. Die am weitesten entfernten Absender schickten ihre Werke aus Portugal und Griechenland,
Das kürzeste Gedicht kam aus Hamburg vom Liedermacher und Kabarettisten Johannes Kirchberg und war zwei Zeilen lang. Das umfangreichste dichterische Konvolut sandte Peter Wawerzinek ein, der schlichtweg alle Stadt zum lyrischen Thema machte, die Ringelnatz in „Briefe eines reisenden Artisten“ 1927 selbst mit Versen bedacht hatte. Ringelnatz-Begeisterte in Österreich und der Schweiz zeigten sich der Werke des reisenden Artisten ebenso kundig wie in Deutschland. Zu 93 Städten äußerten sich Ringelnatzbegeisterte mit lyrischen Echos.
Die knifflige Aufgabe, dichtend einen Bezug zum Dichter herzustellen, wurde oft überraschend und auf unendlich vielfältige Weise gelöst, besonders dann, wenn Ringelnatz die Stadt nie selbst beehrt hatte. Zur Freude des Vereins machte die Fülle und der lyrische Ideenreichtum der Einsendungen der Jury die Aufgabe besonders schwer.
Das Gremium wählte folgende Preisträger aus:
Sonderpreis „Wurzener Extra“: Peter Wawerzinek
für sein umfangreiches Konvolut von Stadtgedichten, angelehnt an Ringelnatz‘ „Briefe eines reisenden Artisten“.
Leider verhinderte die Corona-Pandemie eine öffentliche Preisverleihung. Der Verein zeichnete den auch ohne Publikum ehrenvolle Akt deshalb per Video auf. Auf dem YouTube-Kanal des Vereins finden sich Wettbewerbsaufruf und Preisverleihung ebenso dokumentiert wie Michael Ostheimers Videopodcasts auf den Spuren des reisenden Artisten anhand der Reisebriefe. Die Jury unterstützte den Verein überdies dabei, die besten der 260 Gedichte in einer Anthologie zu vereinen. Das Buch ist mit der Ausstellung im Ringelnatz-Geburtshaus im Crostigall 14 verbunden, die dem literarischen Wirkungsraum von Ringelnatz gewidmet ist. Ihr Titel: “Vom Crostigall nach überall“, erschienen im Mitteldeutschen Verlag, ISBN 978-3-96311-791-6.
»Und seitab liegt die Stadt« ist ein Projekt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und des Literarischen Colloquiums Berlin und fördert bundesweit literaturbezogene Veranstaltungen für Erwachsene, Jugendliche und Kinder in Orten mit weniger als 20.000 Einwohnern. Es wird gefördert im Rahmen des BKM-Förderprogramms »Kultur in ländlichen Räumen«. Die Mittel stammen aus dem Bundesprogramm »Ländliche Entwicklung« (BULE) des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Ziel ist es, die Literaturvermittlung zu stärken und möglichst vielen Menschen Möglichkeiten zu eröffnen, kulturelle und gesellschaftliche Debatten mitzugestalten.