»Das Herz sitzt über dem Popo. –
Das Hirn überragt beides.«
Joachim Ringelnatz
Wenn ich ein Aktenordner wäre, würde mich ein schwarzer Pullover mit einem auffälligen, weißen Aufdruck, versehen mit einem dicken, arialen „M“, zieren. Ich hätte auch meinen festen Platz in einem schmucklosen Holzregal und wäre eingekuschelt zwischen meiner Schwester, dem „N“, und meinem Bruder, dem „L“. Mein älterer Bruder brächte ein paar Kiloklienten mehr auf die Waage als meine jüngere, zarte Schwester. Ich allerdings müsste zugeben, dass ich auch wieder einige Kilo abgeben könnte. Doch darauf hätte ich keinen Einfluss, sondern dies läge im Aufgabenbereich von Rainer und Gisela. Rainer ist unser griesgrämiger, akkurater Angestellter, der montags mit einer Faust im Gesicht, pünktlich um 7:55 Uhr, die Fenster aufreißt und lüftet. Im Sommer liebe ich ihn dafür, doch auch im Winter hat er kein Erbarmen, und dann wünsche ich mir, er hätte sich am Wochenende ein Virus eingefangen und stände unter Quarantäne. Die adrette Gisela dagegen, mit ihrer Bobfrisur und kirschroten Lippen, spaziert mit leuchtenden Augen und einem fröhlichen „Guten Morgen“ pünktlich 9:10 Uhr herein. Rainer weist sie muffelig wie immer darauf hin, dass sie wieder einmal zu spät sei. Galant winkt Gisela ab und berichtet übergangslos von ihrem erlebnisreichen Wochenende. Von einem exquisiten Abendessen mit dem Herrn Gemahl, einer fulminanten Aufführung von Wagners „Ring der Nibelungen“ und zu guter Letzt, natürlich, die schwärmerischen Beschreibungen von ihrem kleinen, niedlichen Jungen mit den blauen Augen und goldenen Löckchen. Sein Name ist Siegfried und mit 35 Jahren hört Gisela jetzt die Glocken läuten. Was sie damit meint, wüsste ich allerdings nicht! Die Glocke der katholischen Kirche läutet vorschriftsmäßig genau dann, wenn der große Arm von Berta an die Zimmerdecke zeigt. Berta arbeitet akribisch und verbissen über der Eingangstür. Mit ihr scherzt man nicht, denn schon die zweimalige Inventur im Jahr strapaziert ihr Nervenkostüm. Und das nur, weil sich gewisse Herrschaften in Genf nicht für den Sommer oder den Winter entscheiden können. Also ich würde mich für den Sommer entscheiden!
Links unter Berta befindet sich ein kleiner Schreibtisch, den unsere Auszubildende Sophie nutzt. Sophie ist eine junge, rothaarige Dame, bekleidet mit engen, schwarzen Jeans und auffälligen, weißen Stoffschuhen. Sie zeichnet sich durch wirbelnde, flinke Fingerfertigkeiten aus, jedoch verstehe ich nicht, wieso sie ihr Talent vorrangig am Smartphone unter dem Schreibtisch vergeudet. Außerdem hat sie viele Bekanntschaften, hauptsächlich zu Männern. Da gibt es den süßen Anton, den muskulösen Till oder den verständnisvollen Michel. Leider pflegt sie trotz dieser tollen Typen eine stete Beziehung zu einem Mr. Arschloch, der ein Betrüger und Lügner ist. Da gibt es dann öfter Tränen, die Gisela mütterlich trocknet, während Rainer mit rollenden Augen in seine wohlverdiente Raucherpause geht.
Manchmal kommen auch Klienten, denn wir verkaufen nichts, sondern genehmigen oder lehnen ab. Rainers Chef, der Herr Paragraph, ist streng, und so knallt der rote Stempel „Abgelehnt“ häufig auf die Formulare. Giselas Chef dagegen, der Herr Verständnis, benutzt häufig den schlichten, schwarzen „Genehmigt“- Stempel. Gelegentlich betreten einige unangenehm, riechende Klienten das Zimmer. Rainer lüftet dann hinterher erneut und sagt laut, voller Ekel: „Der hatte eine Fahne! Die stinkt meilenweit gegen den Wind!“ Ab und an hält aber auch er die Fahne hoch, z.B., wenn Sophie wieder montags krankgeschrieben ist. Hauptsache dieser Übeltäter trägt nicht mein „M“ in seinen Namen, wie Müller oder Meier, denn dann hätte ich diese Stinkbombe am Leibe. Solche Klienten gönne ich allerdings dem „W“. Das ist nämlich ein ziemlicher Angeber.
Insgesamt ist es ein ziemlich aufregendes Leben. Der ganze Klatsch und Tratsch, die Tragödien und die spitzen Dialoge zwischen Rainer und Gisela sind der ideale Ersatz für das wochentägliche Fernsehprogramm zwischen 12 und 16 Uhr auf den privaten Sendern, mit ihren Talkshows und Richtersendungen. Nur das kurze Martyrium von Rainers Griff nach mir und dem lieblosen Aufschlagen auf dem Tisch wäre mir ein Grauen. Meine Geschwister jedoch lindern meine Leiden und der Spaß geht weiter, bis freitags pünktlich 11:30 Uhr das Wochenende im Büro einzieht. Und wenn die Räder der Politik und der Telekom weiter so gemächlichen rollen, wird mir der Aktenvernichter unter Rainers Tisch erspart bleiben.
Mario Mäding
Der Joachim-Ringelnatz-Verein e.V. wurde 1992 in Wurzen (Sachsen) gegründet. Der Verein organisiert Kleinkunst, Ausstellungen, Vorträge, Lesungen und viele andere Veranstaltungen rund um Joachim Ringelnatz und dessen Geburtshaus in Wurzen sowie den alljährlichen RingelnatzSommer in Wurzen.
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