„Die Stunden, nicht die Tage,
sind die Stützpunkte unserer Erinnerung.“
Joachim Ringelnatz
Wurzen ist die Geburtsstadt von Joachim Ringelnatz. Hier hat er als Hans Gustav Bötticher am 7.8.1883 das Licht der Welt erblickt und verlebte seine frühe Kindheit.
Im autobiografischen Text „Mein Leben bis zum Kriege“ beschrieb Ringelnatz seine früheste Kindheit. Das meiste wurde ihm von Erwachsenen später berichtet. „Ich kann es nicht nachprüfen und kann auch damit nichts für meine Selbstbetrachtung anfangen.“ Und er bilanzierte lakonisch: „Hat alles seine Frucht gebracht. So oder so.“[1] Wohl deshalb vereint Ringelnatz Fragezeichen und Ausrufezeichen hinter seiner Geburtsstadt, als er sie nach Ende der Tournee mit seinem Theaterstück „Die Flasche“ kurz besuchte. „Wurzen!?!?! – ach du liebe Zeit! Mein Wurzen.
Wurzen blieb ihm nicht nur „die Stadt, wo meine Mutter mich gebar“, wie er in einem Gedicht über Dresden vermerkte[2]. Bereits zu seinen Lebzeiten werden hier seine literarischen Werke gesammelt. Seine Ehefrau Muschelkalk erinnerte Ringelnatz persönlich per Brief daran, Publiziertes nach Wurzen zu senden, wo es seither im Museum der Stadt sorgsam bewahrt und stetig um weiteres ergänzt wird. Wurzens Museum beherbergt die älteste Sammlung zu Ringelnatz in Deutschland. Bereits in den 1920er Jahren hatte der damalige Museumsleiter Kurt Bergt, ein begeisterter Ringelnatz-Sammler, Kontakt zum Dichter gesucht.
[1] Joachim Ringelnatz: Mein Leben bis zum Kriege, Zürich 1994, S. 5.
[2] Joachim Ringelnatz: Gedichte I, Zürich 1994, S. 207.
Joachim Ringelnatz selbst hatte an seine frühe Kindheit in Wurzen nur sehr verschwommene Erinnerungen:
Ein Dienstmädchen trug mich auf dem Arm oder führte mich an der Hand. Es war noch jemand dabei. Wir standen am Rande eines trostlos schlammfarbenen Wassers, das in die Straße eingedrungen war und … immer höher stieg. Und der Himmel war gewittergelb … So schlimm, so trostlos war das! Das Dienstmädchen machte mich offenbar gern gruseln. Denn andermal zog sie mich auf einen Friedhof trotz meines weinenden und schreienden Protestes vor ein Kreuz, an das ein großer, schreckeinflößender, nackter Mann genagelt war [Pesthäuschen]. Das ist meine am weitesten zurückreichende Erinnerung.
Ich habe meinen Soldaten aus Blei
Ehrgeiz – von Joachim Ringelnatz
Als Kind Verdienstkreuzchen eingeritzt.
Mir selber ging alle Ehre vorbei,
Bis auf zwei Orden, die jeder besitzt.
Und ich pfeife durchaus nicht auf Ehre.
Im Gegenteil. Mein Ideal wäre,
Daß man nach meinem Tod (grano salis)
Ein Gäßchen nach mir benennt, ein ganz schmales
Und krummes Gäßchen, mit niedrigen Türchen,
Mit steilen Treppchen und feilen Hürchen,
Mit Schatten und schiefen Fensterluken.
Dort würde ich spuken.
Zu seinem 125. Geburtstag erfüllte Joachim Ringelnatz‘ Geburtsstadt den von ihm geäußerten Wunsch, man möge nach seinem Tode ein Gässchen nach ihm benennen.
Das zu bewundernde Ringelnatzgässchen in Wurzens Altstadt zeigt sich so, wie es sich Ringelnatz ausdrücklich wünschte …
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und des nationalsozialistischen Regimes beherbergte Ringelnatz‘ Geburtshaus von der Stadt eingewiesene Kriegsflüchtlinge. Zum elften Todestag des Dichters im November 1945 ließ Kurt Bergt eine Gedenktafel am Geburtshaus anbringen und eine Straße nach Ringelnatz benennen. Die Tafel mit dem in Holz geschnittenen Portrait des Künstlers wurde im Beisein seiner Schwester Ottilie Mitter enthüllt und ziert das Haus bis heute.
Seit der Wiedereröffnung des städtischen Museums 1948 wurde Ringelnatz als der berühmteste Sohn der Stadt Wurzen mit einer ständigen Ausstellung geehrt, der ersten in Deutschland. Geschenke der Ringelnatz-Familie vergrößerten die Sammlung. Das Vorhaben seiner Witwe Muschelkalk den Nachlass ihres Mannes einmal dem Wurzener Museum zu überlassen, scheiterte an den politischen Verhältnissen nach 1945 infolge der deutschen Teilung. Bis heute zeigt das Kulturhistorische Museum der Stadt eine Ausstellung zum Leben des vielseitigen Künstlers, darunter auch Beachtliches aus dem malerischen Werk von Ringelnatz.
Vor dem 100. Geburtstag von Ringelnatz 1983 erwarb die Stadt das Geburtshaus und sanierte es. Hier fand die ständige Ringelnatz-Ausstellung einen besonderen Platz und der Club der Intelligenz „Joachim Ringelnatz“ übernahm es, des Dichters im Geburtshaus zu gedenken.
Wurzen weihte zum runden Jubiläum auf dem Marktplatz einen Ringelnatz-Brunnen ein. Er entstand als Gemeinschaftsarbeit der beiden Leipziger Bildhauer Dieter Dietze und Hartmut Klopsch.
Heute weisen schon an den Wurzener Autobahnabfahrten Touristische Unterrichtungstafeln auf die Ringelnatz-Stadt hin, grüßen Hausgiebel mit ringelnatziger Gestaltung und laden die Kinderspielplätze „Kuttel Daddeldu“ und „Ein Hafen zum Verweilen“ den Nachwuchs zum Herumtollen ein, was sicher ganz im Sinne des großen Kinderfreundes Joachim Ringelnatz gewesen wäre.
Und nicht zuletzt führt der Ringelnatzpfad über 13 Stationen entlang wichtiger Sehenswürdigkeiten, vor allem durch die historische Altstadt Wurzens. An jedem Standort wurde eine Stele errichtet, die das Konterfei des Dichters ziert, mit einem individuellen Kunstwerk gekrönt ist und einen Gedichtauszug aus dem umfangreichen Werk des Künstlers trägt. Auch musikalisch ist der Kunstpfad über einen QR-Code-Link erfahrbar.
Der Kabarettist, Dichter und Pianist Robert T. Odeman, der den 20 Jahre älteren Ringelnatz als Mensch und Dichter sehr verehrte, schrieb über dessen Geburtsstadt einst folgendes Gedicht:
Oft geht in die Geschichte ein
ein Ort, durch einen kurzen
Moment, an sich so winzig klein…
Wie steht es nun mit Wurzen?
Bisher hat diese brave Stadt
kaum achtbare Akzente,
die ein Chronist zu buchen hat.
Als einziges er könnteden wunderschönen Dialekt
dort rühmen besten Falles,
der unserm Ohr so köstlich schmeckt,
das wäre dann auch alles.
Im Urfaust sagt zwar Goethe mal
verdrossen vom Verkehre,
es sei sehr langsam und fatal
dort auf dem Fluß die Fähre.Napoleon schlief eine Nacht
in Würzen an der Mulde,
verlor bei Leipzig drauf die Schlacht.
War Würzen etwa schulde?
Und dann geschah lang gar nichts mehr,
das Städtchen döste sachte,
bis eines Tags bei Bötticher
der Storch ein Knäblein brachte.
Am siebten Achten zum Kaffee
im Jahre dreiundachtzig,
da ging’s mit Wurzen in die Höh‘,
das Schicksal sprach: Es macht sich.
Es selber ahnte aber nicht,
wer damals dort geboren.
Wer eigentlich der kleine Wicht,
kam später ihm zu Ohren.Ein schrullig Kind, verschnickt, verschnackt,
ein Nasenkauz, ein kleiner,
verhuscht und maritim verpackt,
und doch ein wunderfeiner.
Der kleine Hans bei Böttichers
ging ein in die Geschichte,
er kritzelte manch frechen Vers
und herrliche Gedichte.Und Wurzen ist nicht mehr ein Platz,
(Aus: Das große Robert T. Odeman-Buch. Berlin S. 225f.)
an den der Spott sich kettet.
Sein Sohn Joachim Ringelnatz
hat es davor gerettet.
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