»Das Herz sitzt über dem Popo. –
Das Hirn überragt beides.«
Joachim Ringelnatz
Wenn ich ein Stück Würfelzucker wäre, läge ich in einer kleinen Schachtel aus Papier.
Eine Maschine hat mich einsortiert, uns einsortiert.
Vorher waren wir glitzernde weiße Zuckerkristalle, fast wie Schneeflocken, die das Licht reflektierten.
Wie Stars im Rampenlicht!
Dann kam die Presse. Sie hat uns in einheitliche Formen gezwungen. Wir heißen jetzt ganz banal:
Würfelzucker.
Nun lieg ich hier, es ist eng, ich kann mich nicht bewegen. Um mich herum Begrenzungen.
In den geschlossenen, ursprünglich hellgrauen vier Wänden ist es dunkel und still. Ich habe mein
weißes, glamouröses Strahlen verloren, es fehlt das Licht und die Freiheit.
Seit Wochen nun schon muss ich hier sein, hab kein Gefühl mehr von Zeit.
Aber es hat Vorteile: als Würfelzuckerstück unter völlig gleich aussehenden Artgenossen bin ich so
anonym wie die Bewohner eines Hochhauses mit 15 oder mehr Etagen.
Mit Gängen und hunderten Wohnungen.
Will ich das? Nein!
Mein Lebenswille kämpft gegen das triste Dasein in der Begrenzung aus Pappe an.
Die Gedanken breiten sich trotz der Enge in mir aus, verlassen in der Vorstellung die Schachtel, die
noch geschlossen ist.
Jetzt!
Unsere Behausung scheint zu schweben. Unvermittelt prallen wir gemeinsam irgendwo auf, fallen
runter, schweben wieder. Motorengeräusche, Kinderstimmen, ein Hund bellt in der Ferne.
Wieder schaukelt es wie auf hoher See. Wir stützen uns gegenseitig, einigen ist schlecht.
Ein letztes Mal klatschen wir als Ganzes irgendwo auf, vielleicht auf einem Küchentisch.
Ich höre eine Stimme:
„Der Würfelzucker muss nicht in den Schrank, ich will gleich einen Kaffee trinken!“
Oh je, was hat dies zu bedeuten? Hoffentlich muss ich mich nicht auflösen in diesem heißen, dunklen
Getränk!
Plötzlich wird es hell, das Licht blendet, ich liege ganz oben, direkt unter dem jetzt geöffneten Deckel.
Zwei warme Finger greifen hinein und nehmen sich ein Stück von uns.
Puh, Glück gehabt, denke ich.
Ich warte noch ein paar Stunden in der unverschlossenen Schachtel. Der Wärter hat die Zelle
offengelassen.
Es wird Abend, die Lichter gehen aus und meine Reise beginnt…
Claudia Irmer-Helwig
Der Joachim-Ringelnatz-Verein e.V. wurde 1992 in Wurzen (Sachsen) gegründet. Der Verein organisiert Kleinkunst, Ausstellungen, Vorträge, Lesungen und viele andere Veranstaltungen rund um Joachim Ringelnatz und dessen Geburtshaus in Wurzen sowie den alljährlichen RingelnatzSommer in Wurzen.
[Mehr über den Verein erfahren ...]