»Das Herz sitzt über dem Popo. –
Das Hirn überragt beides.«
Joachim Ringelnatz
Meine Eltern und ich landeten im Jahr 1948 mit einem der letzten Umsiedler-Züge aus Ostpreußen in einer sächsischen Kleinstadt der sowjetischen Besatzungszone. Nach der 8-tägigen Fahrt in Viehwaggons sahen wir zum ersten Mal wieder Häuser ohne Bombenschäden.
Aber zunächst mussten wir für 14 Tage in Quarantäne und kamen für weitere 4 Wochen in ein Auffanglager. Unsere kleine Familie war vollständig, hatte den Krieg überstanden, sogar mein Vater lebte bei uns.
Ich wurde, für mein Alter recht spät, eingeschult und musste als Umsiedler-Kind lernen, mich zu behaupten.
Wir bekamen in einer 4-Zimmerwohnung 2 Zimmer zur Untermiete zugewiesen.
Diese große Wohnung faszinierte mich. Unser Zimmer statteten meine Eltern mit allerlei zusammengekauften oder geschenkten Möbeln aus. Kein Stück passte zum anderen. Aber was tat das schon, es gab 2 Betten für die Eltern, einen aufklappbaren Schlafsessel für mich, wir hatten einen Schrank, einen Tisch, verschiedene Stühle und einen heizbaren Ofen.
Manchmal nahm mich unsere Vermieterin, die ich Tante Änne nennen durfte, mit in ihr großes Zimmer. Es war das frühere „Herrenzimmer“. Mir kam es fürstlich vor. Etwas dunkel war es schon, das lag wohl an den nachgedunkelten, verrauchten Tapeten, aber die Möbel! Auch die sehr dunkel, mit Schnitzereien, sie passten zusammen, ein Schreibtisch, eine Kommode, ein mit dunklem Leder bezogenes großes Sofa, passende Sessel mit sehr hohen Lehnen und Armstützen und der Bücherschrank mit blitzeblanken Scheiben. Das Bett unter dem Fenster passte in diese Herrenidylle nicht so ganz, aber irgendwo musste Tante Änne ja schlafen.
Über dem Schreibtisch hing ein riesiges Ölgemälde, das eine Seeschlacht darstellte. Vor diesem Bild und dem Bücherschrank habe ich oft bewundernd gestanden.
Während der Schuljahre konnte ich die Trümmerwüste meiner Geburtsstadt vergessen und wurde von einer wahren Lesewut befallen. Alles, was mir in die Finger kam, Ostrowskis „Wie der Stahl gehärtet wurde“, ,,Die Junge Garde“, Gaidars „Timur und sein Trupp“, Mutters Groschenhefte, Märchenbücher, ein Busch-Album, alles musste gelesen werden. Sogar an Vaters Stalinbänden habe ich mich vergriffen, sie aber schnell wieder zurückgestellt, weil ich nichts verstand. Umso interessanter war natürlich der Bücherschrank im Herrenzimmer.
Der verstorbene Mann von Tante Änne war ein ausgesprochener Intellektueller der Zeit der Weimarer Republik und hatte mit den Nazis wohl nichts am Hut. Entsprechend sah sein Bücherschrank aus: Remarque, Mühsam, Bildbände der „Brücke“, des „Blauen Reiters“, Heine, Lessing, ein Goethe und Zille. Das habe ich erst später richtig begriffen, als ich auf das Abitur zusteuerte und mir offiziell etwas aus dem Bücherschrank ausleihen durfte. Jetzt war er für mich tabu!
Zu besonderen Anlässen, etwa ihrem Geburtstag, lud Tante Änne meine Eltern und mich im Schlepptau in ihr Zimmer ein. Dazu kamen noch ein paar ältere Damen, die in dem Sofa und in den Sesseln versanken. Ich bekam einen Stuhl. Das Schönste an diesen Feiern war der gedeckte Apfelkuchen, den Tante Änne meisterlich zu backen wusste. Da saßen nun die alten Damen und der eine Herr, mampften den Apfelkuchen, tranken Muckefuck, wohl auch mal ein Likörchen und unterhielten sich über kranke Zähne, zogen über Nachbarn, die Politik, das Wetter her und informierten einander, dass man beim Fleischer für 100g Fleischmarken 300g Flecke oder andere Innereien kaufen könne.
Als ich die 6.Klasse besuchte, war wieder einmal eine solche Feier angesetzt. Die alten Damen und der eine Herr waren in Sofa und Sesseln versunken. Mich beachtete niemand. Also stand ich auf, setzte mich auf den Fußboden, den ein weicher Teppich bedeckte, hinter einen der großen Sessel, der nahe am Bücherschrank stand und war verschwunden. Der Schlüssel steckte, die eine Türe ließ sich leise öffnen, ohne den Sessel zu berühren. Ich griff wahllos ein Buch heraus. Es war ein Van der Velde- nicht etwa der berühmte Architekt, sondern ein Aufklärungsbuch aus dem Ende der 20er Jahre. Mit heißen Ohren saß ich da, sah die Bilder an und las. Mich hatte ja niemand aufgeklärt. Natürlich glaubte ich nicht mehr an den Klapperstorch, hatte auf der Straße so einiges über „Liebe“ gehört und kannte auch das verbotene Wort mit „f“. Meine Eltern hatten mir nichts zu dem Thema erzählt, nicht einmal das Gleichnis von Bienen und Blümchen. Zu fragen traute ich mich nicht. Einerseits, weil die Kinder auf der Straße so geheimnisvoll taten, weil das ja alles eine „Schweinerei“ war und andererseits meine Eltern so rumdrucksten, wenn eine Bemerkung auch nur zufällig mal in die Nähe dieses Thema kam. Ich saß also da, las, was ein Sexualwissenschaftler zu dem Thema ganz nüchtern und pragmatisch zu sagen hatte und vergaß die Welt um mich herum.
Irgendwann vermisste man mich doch. Tante Änne schaute nach, was ich so trieb. Ein Donnerwetter von Tante und Mutter prasselte auf mich hernieder. Mein Vater grinste. Aus war es für die Folgezeit mit Aufklärung und leider auch mit Apfelkuchen.
Aufklärung versuchte dann in der EOS, ich glaube in der 10.Klasse, unsere Biologielehrerin. Der Unterschied war, dass sie mit hochrotem Kopf hinter ihrem Pult saß, dass aber die vor ihr sitzenden Schüler grinsten und eigentlich schon alles besser wussten.
Gisela Böttger
Der Joachim-Ringelnatz-Verein e.V. wurde 1992 in Wurzen (Sachsen) gegründet. Der Verein organisiert Kleinkunst, Ausstellungen, Vorträge, Lesungen und viele andere Veranstaltungen rund um Joachim Ringelnatz und dessen Geburtshaus in Wurzen sowie den alljährlichen RingelnatzSommer in Wurzen.
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