»Das Herz sitzt über dem Popo. –
Das Hirn überragt beides.«
Joachim Ringelnatz
Am 7. August 1883 wurde Hans Gustav Bötticher als jüngstes von drei Geschwistern in Wurzen geboren. Der Mangel an Fachkräften für die sich rasant entwickelnde Industrie führte seine Eltern Georg und Rosa Marie bereits 1875 in die sächsische Kleinstadt an der Mulde. Der jüngste Sohn Hans sollte hier nur fünf Jahre seines Lebens verbringen, denn 1888 zog die Familie weiter nach Leipzig. Er beendete 1901 seine dort wenig erfolgreiche Schulzeit mit dem Einjährigen-Freiwilligen-Examen, wurde ohne Wissen der Eltern zunächst Schiffsjunge und heuerte dann als Matrose bei der Marine auf Segel- und Dampfschiffen an. Hans absolvierte eine kaufmännische Lehre in Hamburg, arbeitete als Hausmeister in einer englischen Pension, war Lehrling in einer Dachpappenfabrik und Angestellter in einem Münchner Reisebüro.
Er wurde zum Hausdichter des Simplicissimus in München und verdiente sich seinen Lebensunterhalt unter anderem als Bibliothekar der Familie York Graf von Wartenburg sowie als Fremdenführer und Schaufensterdekorateur in München. Bereits vor dem 1. Weltkrieg machte er erste Veröffentlichungen. Nach dem Kriegsdienst in der Marine gab sich Hans Bötticher 1919 dann den Namen Joachim Ringelnatz. Ein Jahr später heiratete er die fünfzehn Jahre jüngere Lehrerin Leonharda Pieper, die er Muschelkalk nannte und die sich zu Hause um Korrespondenz, Manuskripte und Engagements kümmerte, und die Entstehung seines dichterischen Werkes begleitete. Zur Zeit der Weimarer Republik wurde Ringelnatz zu einem bekannten Künstler im gesamten deutschsprachigen Raum, und zählte Schauspieler:innen wie Asta Nielsen, Hans Albers und Paul Wegener zu seinen engen Freunden und Weggefährten.
Den Aufstieg der NSDAP hatte Ringelnatz allzu lange nicht ernst genommen, doch 1933 erteilten ihm die an die Macht gekommenen Nationalsozialisten Auftrittsverbote, die meisten seiner Bücher wurden beschlagnahmt oder verbrannt, seine Gemälde als „Entartete Kunst“ aus Galerien entfernt.
Joachim Ringelnatz starb am 17. November 1934 im Alter von 51 Jahren in seiner Wohnung am Sachsenplatz an der bereits ein Jahr zuvor ausgebrochenen Tuberkulose. Beigesetzt wurde er auf dem Berliner Waldfriedhof Heerstraße, man spielte sein Lieblingslied La Paloma. Auf dem heutigen Ehrengrab des Landes Berlin liegt eine Grabplatte aus Muschelkalk, deren Inschrift in Bronzelettern seine Freundin Renée Sintenis entwarf. Nach seinem Tod gab Muschelkalk mit seinem Freund Hans Siemsen seine noch unveröffentlichten Texte heraus und stellte das Buch »In memoriam Joachim Ringelnatz« zusammen, das 1937 erschien.
Sein erster Gedichtband für Erwachsene wurde von ihm selbst im Rückblick kritisch gesehen. In seiner später erschienenen Sammlung »Die Schnupf-tabaksdose« war der Ton völlig verändert: Ringelnatz schrieb groteske Unsinnspoesie. Einige der Gedichte gehören zu seinen bis heute bekanntesten. Satirisch, heiter grotesk und bisweilen erschütternd ernst schuf diese empfindsame Seele mit der eigenwilligen Fantasie jedoch nur scheinbar obskure, surreale Kunst.
Bekannt und berühmt wurde Joachim Ringelnatz vor allem durch seine humoristischen Gedichte um die Kunstfigur »Kuttel Daddeldu«. In langen Erzähl-gedichten mit sehr frei gehandhabtem Vers wurden die haarsträubenden Abenteuer dieses Seemanns präsentiert, der keine Manieren hat, ungehemmt seinen obszönen Augenblicksgelüsten nachgibt, ständiger Bordellgast ist und wahllos Gewalt anwendet.
Aber Ringelnatz schuf noch sehr viel mehr. Er war ein immens fleißiger Autor. Zwischen 1910 und 1934 brachte er es auf fast 20 Bücher: mehrere Gedichtbände, fünf autobiografische Bücher, dazu Romane, Bühnenstücke und Erzählungen sowie fünf Bücher für Kinder, denen seine ganze Liebe galt.
Zwei Bücher veröffentlichte Ringelnatz in radikal anderem Stil: Den Großstadtroman »…liner Roma…«, und die Groteskensammlung »Nervosipopel«.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurden Ringelnatz’ Werke Opfer der Bücher-verbrennungen, nur ein Jahr vor seinem Tod.
Die von Ringelnatz geschaffenen, teils skurrilen, expressionistischen, witzigen und geistreichen Werke haben heute jedoch wieder einen hohen Bekanntheitsgrad und erfreuen sich großer Beliebtheit.
Sein eigentliches künstlerisches Element war die Sprachphantastik, das erfinderische Spiel des Wortes, das er mit handwerklichem Sinn für Farbe und Kraft behandelte; das konnte lärmende Kaskaden geben, aber die besten seiner Verse soll man still und schlicht lesen, und dann schenken sie keine gedichtete Journalistik, sondern etwas sehr Altmodisches: Poesie.
[Theodor Heuss in Günther: Joachim Ringelnatz in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. S. 155.]
Ein entscheidendes Ereignis im Leben von Joachim Ringelnatz war 1909 der Beginn seiner Auftritte in der Münchner Künstlerkneipe »Simplicissimus«.
Rasch wurde der Unbekannte zum Hausdichter und damit quasi Angestellten der geschäftstüchtigen Wirtin Kathi Kobus sowie Freund und Kollege der dort auftretenden und verkehrenden Künstler wie Carl Georg von Maassen, Erich Mühsam, Frank Wedekind, Max Dauthendey, Julius Beck, Ludwig Thoma, Emmy Hennings, Roda Roda, Bruno Frank und Max Reinhardt. Das Engagement war jedoch äußerst schlecht bezahlt.
Sein eigentliches Leben als reisender Vortragskünstler, das ihn mehrere Monate im Jahr auf Bühnen im gesamten deutschsprachigen Raum brachte, begann 1920 auf Berlins Kleinkunst- und Kabarettbühne »Schall und Rauch«. Im Verlauf der 1920er Jahre folgten unzählige Kabarett-Auftritte in allen größeren deutschen Städten sowie in Wien, Zürich und Prag. Ringelnatz, der stets im Matrosenanzug auftrat, wurde schnell bekannt und musste bald schon Aufträge ablehnen.
Mit dem derb humoristischen Seemann Kuttel Daddeldu hatte Ringelnatz eine neue Kunstfigur des Literarischen Kabaretts geschaffen. Das Programm war abwechslungsreich gestaltet und fand ein begeistertes Publikum.
Zwischen Gedichten mit extremen Kurzversen und ausladenden Langversen, mit turbulenter Handlung und jähen Wendungen, platzierte Ringelnatz auch seine ernsten sozialkritischen Berlin-Gedichte und zeitlose, in ihrer eigenen Schönheit leuchtende Lyrik wie »Jene brasilianischen Schmetterlinge«.
Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, erteilten sie Ringelnatz Auftrittsverbote – in Dresden holte man ihn sogar gewaltsam von der Bühne.
Die Filmaufnahme »Im Park« ist das einzige historische Filmdokument in dem Joachim Ringelnatz festgehalten wurde.
Ringelnatz, Joachim – Kunstmaler. So war er in den dreißiger Jahren im Berliner Telefonbuch verzeichnet. Bereits als Kind malte und zeichnete er beinahe ununterbrochen. Sein ganzes Leben lang verzierte er Briefe mit Zeichnungen und wurde schließlich von seinen Verlegern gebeten, seine Bücher mit seinen eigenen skurrilen Illustrationen zu versehen. Ringelnatz hat nie eine Kunstakademie besucht und lässt sich malerisch wie technisch nicht auf eine Stilrichtung festlegen. Seine surrealen und oft düsteren Bilder existieren unabhängig vom dichterischen Werk und überflügelten dieses in seinen letzten Lebensjahren sogar .
Eine außergewöhnliche Freundschaft pflegte Ringelnatz zur Bildhauerin Renée Sintenis, und schmiedete über sie und ihr plastisches Werk zahlreiche Verse. Sintenis wiederum ließ sein Porträt in Bronze gießen und verhalf ihrem Freund Ringelnatz zu nachhaltiger Anerkennung als Maler. In der Folge wurden seine Werke zugleich mit denen so bedeutender Künstler wie Otto Dix und George Grosz ausgestellt, unter anderem auch an der Berliner Akademie der Wissenschaften.
Ringelnatz war äußerst produktiv und schuf innerhalb von nicht einmal anderthalb Jahrzehnten zahlreiche Ölgemälde, Aquarelle und Zeichnungen in den Stilrichtungen des Magischen Realismus und Verismus. Seit den Kriegszeiten gilt der größte Teil seiner bildkünstlerischen Hinterlassenschaft als verschollen. Seine Gemälde belegen einerseits, dass Ringelnatz kein ausgebildeter Maler war, andererseits zeigen die besten Beispiele (Nachts am Wasser, Hafenkneipe, Flucht) eine in der Tradition von Neuer Sachlichkeit und Surrealismus überzeugend präsentierte Mischung aus realistischer Darstellung und vieldeutig lesbarer, tendenziell unheimlicher Aussage.
Eine Reihe von Ringelnatz’ meist kleinformatigen Gemälden wurde 1933 als „Entartete Kunst“ aus deutschen Galerien entfernt. Viele sind im Krieg verloren gegangen, die meisten befinden sich heute in Privatbesitz.
Im Jahr 2016 wurde Joachim Ringelnatz‘ malerisches Werk ins „Zentrum für verfolgte Künste“ nach Solingen geholt. Für die Schau »War einmal ein Bumerang. Der Maler Joachim Ringelnatz kehrt zurück« hatte das Solinger Zentrum Werke von Museen und privaten Sammlern als Leihgaben erhalten. Viele der noch existierenden Ölgemälde, Zeichnungen und Aquarelle kann man derzeit vor allem im Joachim-Ringelnatz-Museum Cuxhaven besichtigen, ausgesuchte Werke sind auch im Kulturgeschichtlichen Museum Wurzen und im Kunsthaus Zürich sehen.