»Das Herz sitzt über dem Popo. –
Das Hirn überragt beides.«
Joachim Ringelnatz
Die Mulde und Ringelnatz haben es dem heute in Halle lebenden Poeten André Schinkel angetan. Kein Wunder. Schinkel wurde in der Muldestadt Eilenburg geboren und 2006 auf Vorschlag von Wolf Biermann mit dem Ringelnatzpreis der Stadt Cuxhaven für den deutschen Poetennachwuchs geehrt. Seine pädagogisch provokanten Kindergedichte wie „Katzenkackeallergie“ oder „Santas Versäumnisse“ sorgen stets für Jubel beim jungen Publikum. Und sie stiften zum Nachmachen an. Im Jahr 2020 ging André Schinkel mit „Anna Hood und das Wunder vom Crostigall“ in zwei Wurzener Grundschulen auf Entdeckungssuche nach dem literarischen Nachwuchs.
16 Kinder aus Wurzen hatten ein Jahr lang die Möglichkeit, sich unter Anleitung von André Schinkel und der Malerin und Grafikerin Constanze Kerth in den Wörterwelten auszuprobieren. Sich als „Anna-Hood–Gäng“ literarisch auf Entdeckungstour zu begeben, geht auf ein Kinderbuch von Jürgen Jankofsky zurück. Er hat Anna Hood erfunden und seinem Kinderbuch folgen mittlerweile Kinder in zehn europäischen Städten. Mit seiner Gitarre kam er auch nach Wurzen und stellte sein Buch und die Folgen vor. Natürlich ist Anna eine geistige Schwester des Rebellen Robin Hood, aber sie lebt heute. In Wurzen galt die Entdeckungsreise natürlich Joachim Ringelnatz, seiner Kindheit in Wurzen, seiner Geburtsstadt und seinem Geburtshaus. Die Ringelnatz-Grundschule und die Diesterweg-Grundschule wurden Partner des Ringelnatz-Vereins bei diesem wunderbaren Projekt. Mindestens einmal im Monat, in den Ferien öfter, traf sich die Anna-Hood-Gäng vom Crostigall zu Schreib- und Buch- und Illustrationswerkstätten, Exkursionen und Entdeckungstouren. Künstler aus Halle und Leipzig unterstützen die Autorenpatenschaft mit Spezialprojekten zu Druck und Illustration, Buchbinderei und Poesie.
Ein Jahr arbeiteten die Wurzener Grundschüler der „Anna-Hood-Gäng“ an dem Projekt und durften schließlich im Juni 2021 ihr eigenes, druckfrisches Buch vorstellen, und das im lauschigen Hof des Schweizergartens und vor Oberbürgermeister und Stadträten. Das Projekt mit den vielen Werkstatttagen trotzte Corona unter Federführung des Ringelnatzvereins und wurde ein voller Erfolg.
Die Gäng des Ringelnatz-Vereins war auch 2021 und trotz Pandemie seit Schuljahresbeginn wieder unterwegs. Diesmal steckten die Schüler verschiedener Schulen aus dem Wurzener Land ihre Dichternasen ins … genau das wird nicht verraten. Denn ihr Projekt-Thema unter Anleitung des Leipziger Lyrikers und Schriftstellers Carl Christian Elze ist „das geheime Leben der Dinge“. Jedes der zwölf Dichterkinder machte sein eigenes Ding zu Dichtung, versetzte sich in Mülltonne oder Angelrute, in die Rollschuhe oder den Fußball hinein und erlebte die Welt aus deren Sicht. Fantastische Texte sind dabei herausgekommen, in denen es knuspert und zischt, jubelt und trauert, gelacht und gefühlt wird – je nach Lage der Dinge. Während ihrer Dichterwerkstätten griffen die Dichterlinge obendrein zu Pinsel und Farbe. Dabei ermutigt und beraten von der Malerin Constanze Kerth aus Leipzig. Ihre Aufgabe war es, ihr geheimes Ding in Aquarell und Fineliner auf Papier zu bannen. Doch aus den Texten und den Bildern sollte diesmal kein Buch werden. „Das geheime Leben der Dinge“ ist stattdessen als wunderbarer Kalender erschienen. Mit allen Namen und Texten und Bildern.
Die Kinder und Jugendlichen sind eine starke Gemeinschaft geworden, die ihre literarische Entdeckungsreise auch 2022 fortsetzte. Der starke soziale Zusammenhalt in der Anna-Hood-Gäng, entstanden aus gemeinsamen schöpferischen Erlebnissen, sorgte auch im Nachfolgeprojekt „Ich würde Dir ohne Bedenken…“ dafür , dass der „Funke“ auch auf weitere junge Schreiber*innen mit unterschiedlichstem familiären Hintergrund und sehr verschiedenen schulischen Leistungen übersprang.
Vorgänger- und Nachfolge-Projekt verbanden sich auch in der Person der Pädagogin Eva-Maria Hänsel, die die Herzen und das Vertrauen der Anna-Hood-Gäng längst erobert hat, und – ganz klar – in der des Wurzener Dichters Joachim Ringelnatz, dessen tolerant-liebevolle Weltsicht die Kinder inzwischen schätzen. Der neuerliche Autorenpate Carl-Christian Elze leitete auch bei der Gestaltung der „Literarischen Fliesen“ mit viel Geschick die Kinder zur Erarbeitung ihrer Texte an. Das neue Abenteuer für die Kinder war diesmal die Erfahrung zu machten, dass Texte nicht nur auf Papier bzw. in Büchern „leben“ können, sondern auch auf anderen Materialien und im öffentlichen Raum.
Die Begleitwerkstatt von Constanze Kehrt zeigte den Kindern, wie sie am Computer ihre Literarischen Fliesen für Wurzen gestalten können. Wie Ringelnatz jonglierten die Kinder mit Worten, dass einem schwindlig wurde. Inspiriert von Carl-Christian Elze und Illustratorin Constanze Kerth konnte sich jedes Kind für eine eigene Schriftart, Schriftgröße und Farbgestaltung entscheiden. Die Fliesen wurden schließlich in einer regionalen Druckerei bedruckt. Begleitend zum Schreibprozess gab es im Rahmen einer Exkursion einen Besuch einer Töpferei geben, wo die Kinder ein Gefühl für Handarbeit bekommen sollen, indem sie eigene kleine Keramikobjekte und Fliesen herstellten.
Ende November 2022 wurden die 20 mal 20 Zentimeter großen Fliesen schließlich an verschiedenen Stellen im öffentlichen Raum der Stadt Wurzen angebracht – im Ringelnatzgässchen, im Arkadenhof, oder „Unter der Tanne“. Die Sichtbarkeit an vielen verschiedenen, öffentlich zugänglichen Stellen vielleicht sogar so lange, bis die Kinder selbst Erwachsene geworden sind sollte die Kinder zusätzlich anspornen.
Auch für das Jahr 2023 konnte Carl Christian Elze für das aktuelle Modul „Wir malen Gedichte“ wieder als Autorenpate gewonnen werden, der auch bei der Entstehung der neuen Bildgedichte mit viel Geschick die Kinder zur Erarbeitung ihrer Texte anleitete, genauso wie Constanze Kehrt bei den künstlerischen Techniken.
Das neue Abenteuer für die Kinder ließ sie mit Hilfe zahlreicher Beispiele aus der Konkreten Poesie in der Schreibwerkstatt die Erfahrung machen , dass Gedichte/Texte nicht immer aus vielen Wörtern bestehen müssen, und dass man tatsächlich mit einzelnen Wörtern und ihren Bedeutungen spielen und experimentieren kann. Ihre fertigen Gedichte entstanden in einem großen Format auf einer Leinwand stehen und sind nun Teil einer kleinen Ausstellung im Lesecafé des neu eröffneten Ringelnatz-Geburtshaus.
Die Anna-Hood Gäng hat auch im Jahr 2024 ein neues literarisches Abenteuer erlebt … diesmal vom „Vom Drehbuch zum fertigen Film“. Das Projekt unter der Leitung von Carl-Christian Elze ging weit über den Schreibprozess hinaus. Nicht nur Drehbücher sollten entstehen, sondern auch fertige Filme. Mit Unterstützung durch die Leipziger Künstlerin Constanze Kehrt erlernten die Kinder und Jugendlichen die Grundlagen für das Schreiben von Drehbüchern. Daneben gab es erste Übungen zur Körperwahrnehmung, Stimm- und Sprachübungen sowie Improvisations- und Schauspielübungen. Mit Unterstützung durch den Leipziger Theater- und Filmregisseur Philipp J. Neumann wurden die Kinder und Jugendlichen nach einer Einführung in die Filmkunst mit ihren unterschiedlichen Bereichen wie Schauspiel, Regie, Kamera, Ton, Produktion, Szenenbild, Kostüm, Musik, Schnitt, Sounddesign und Jugendlichen auf den eigentlichen Filmdreh vorbereitet. Dazu gehörten Übungen im Storyboarding, Szenenproben und schließlich das Location-Scouting und Festlegen der Drehorte in unmittelbarer Nähe zum Ringelnatz-Geburtshaus.
Dann war es endlich soweit! An zwei Drehtagen wurden die beiden Kurzfilme „Verlorene Verbindung“ und „Die Flosse“ in Wurzen gedreht. Dabei übernahmen die Kinder nicht nur die Rollen, sondern auch die Kamera, die Tonabnahme und zum Teil die Regie. Eine Einführung in die Kunst des Film- und Tonschnitts bekamen die Kinder und Jugendlichen schließlich vom Leipziger Cutter und Animation Artist Sascha Werner. Danach wurde das gedrehte Material gemeinsam gesichtet und der Schnitt vorgenommen. Dabei konnten die Kinder und Jugendlichen die Erfahrung machen, dass es tatsächlich maßgeblich der Schnitt ist, der einem Film seinen besonderen Charakter, eine bestimmte Atmosphäre gibt.
Beide Filme können nach der Vorstellung im Ringelnatz-Geburtshaus ab dem 23.11.2024 um 18 Uhr jederzeit auf unserem YouTube-Kanal angeschaut werden. Zudem wird in der Folge noch eine kleine Publikation erscheinen, in dem alle fünf entstandenen Drehbücher vereint sein werden.
Eine Initiative des Bundesverbandes der Friedrich-Bödecker-Kreise (FBK)- „Wörterwelten. Autorenpatenschaften – Literatur lesen und schreiben mit Autor*innen“. Finanziert über das Programm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.