»Das Herz sitzt über dem Popo. –
Das Hirn überragt beides.«
Joachim Ringelnatz
Was Teppichpflege mit Ringelnatz zu tun hat
Artikel von Klaus Peschel in der Leipziger Volkszeitung vom 22. Februar 2001
Helga Schirm ist als ABM-Kraft des Vereins auf den künstlerischen Spuren von Georg Bötticher
Als die DDR 1989 zu Ende ging und politisch eingeäschert wurde, entstiegen aus dieser Asche – sie war noch gar nicht richtig kalt – viele Vereine. Phönixe, die den Himmel erobern wollten. In puncto Ringelnatz stellten sich die Wurzener in eine Warteschleife. Erst 1992 gründete sich der Joachim Ringelnatz Verein. Und damals dachte keiner daran, dass ein gemeinnütziger Verein durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahme auch kurzfristige Arbeit beschaffen kann. Arbeit, die nicht bloße Beschäftigung ist, sondern wissenschaftlich kulturhistorische Ergebnisse liefert.
Seit November 1999 arbeitet Helga Schirm als ABM-Kraft für den Ringelnatz Verein. Und das Interessante an ihrer Tätigkeit ist, dass sie mehr dem Vorleben als dem Leben von Ringelnatz nachgeht. Ringelnatz‘ Vater Georg Bötticher ist ihr Forschungsobjekt. Er war einer der führenden, kunstgewerblichen Zeichner für Flachmuster. Was so gestelzt klingt, meint, der Mann hat Muster für Teppiche und Tapeten entworfen.
Wenn Helga Schirm die alten Musterkollektionsbücher der Teppichfabrik wälzt, kommt sie ins Schwärmen: „Das macht mir wahnsinnig viel Spaß, weil man immer wieder Neues aufspürt.“ Mit der Aufarbeitung des Archivs der Wurzener Teppichfabrik betrat Helga Schirm keineswegs Neuland. Sie erlernte in Meißen den Beruf einer Porzellanmalerin und arbeitete danach knapp zwanzig Jahre in dem traditionsreichen Wurzener Unternehmen. Als Textilzeichnerin griff sie dabei immer mal wieder auf die alten Musterkollektionsbücher zurück.
Aus der umfangreichen Bibliothek mit Sachbänden holte sie sich Anregungen für eigene Entwürfe. Der bibliophile Schatz der Teppichfabrik bot ein Spektrum, das von deutschen Teppichen des Mittelalters bis zu Publikationen über Bestecke, Tonwaren und Porzellan reicht.
Als 1995 der Teppichfabrik der Konkurs drohte, wurde Helga Schirm entlassen. „Damals waren die Bände noch in einem guten Zustand“, erinnert sie sich. Sehr schnell änderte sich das. Die Entlüftung im Bürotrakt wurde abgestellt, ebenso die Heizung. Unsachgemäße Lagerung bekam dem Archivgut schlecht. Die Papiere wurden und modrig. Nach Überführung des unschätzbaren Fundus des weltkannten Betriebes als Leihgabe in das Kulturgeschichtliche Museum mussten die Papiere erst getrocknet werden.
Helga Schirm dokumentiert umfangreiche Material und arbeitet es unter einem speziellen Aspekt für die ständige Ausstellung auf. Der Chef der Entwurfsabteilung der Teppich- und Tapetenfabrik war Georg Bötticher, der Vater von Joachim Ringelnatz. So hat sich die Frau auf Spurensuche gemacht. Allerdings sagt sie einschränkend: „Bis jetzt stochern wir noch so einigermaßen mit der Stange im Nebel, können wir nur auf minimale Funde verweisen.“
Was aber gefunden wurde, ist derzeit in der großen Ringelnatzausstellung zu sehen. Beispielsweise von Georg Bötticher gestaltete Bucheinbände. Eine große Mappe mit Drucken lässt ihn als vielseitigen Gestalter erkennen. Mit leichter Hand entwickelte er Muster für Tapeten, Teppiche, Vasen, Bordüren und Tischdecken.
Fündig wurde Helga Schirm auch in einem dicken Handbuch aus dem Jahre 1904. Alexander Speltz nahm eine dekorative Weinlaubranke von Bötticher in sein opulentes Werk „Der Ornamentstil“ auf. Ebenfalls von Böttichers Hand finden sich in einer Sammelmappe üppige Flächenmuster, in denen Distelköpfe und Maiskolben Akzente setzen.
Mit mehr als 3000 Entwürfen vermitteln die schweren Musterkollektionsbücher ein imposantes Bild der künstlerisch bedeutsamen Arbeit, die in Wurzen geleistet wurde. Neben hauseigenen Entwicklungen enthalten die Bücher auch Kreationen namhafter Künstler.
Nach 1870 erhielt das Unternehmen mehrfach auf Weltausstellungen Goldmedaillen für seine Teppichentwürfe. Tausende von Positionen hat Helga Schirm bereits archiviert. Eine „Teppichpflege“ besonderer Art, die Anerkennung
verdient.
(Klaus Peschel)