»Wir sind oft unbefriedigt, weil
Wir übersicher witzeln.«
Joachim Ringelnatz
Die Ausstellung im Wurzener Ringelnatz-Geburtshaus hat einen bedeutenden literarischen Hintergrund: Hans Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein“. Die Ausstellung würdigt den nicht organisierten, zivilen Widerstand des Ehepaars Otto und Elise Hampel gegen den Nationalsozialismus; des Ehepaares, das Hans Fallada zu seinem inzwischen weltbekannten Roman anregte.
Der Roman basiert auf dem authentischen Fall des Ehepaars Otto und Elise Hampel, das 1940 bis 1942 in Berlin Postkarten-Flugblätter gegen Hitler ausgelegt hatte und denunziert worden war. Fallada schrieb den Roman Ende 1946 in knapp vier Wochen; am 5. Februar 1947 starb er. Der Roman gilt als das erste Buch eines deutschen nicht-emigrierten Schriftstellers über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus.
In seinem Vorwort schreibt Fallada, dass er sich von der Vorlage gelöst habe und keine Wirklichkeit berichte. Die Ausstellung hingegen hält sich ganz an die Wirklichkeit und bleibt – nahezu ohne Bezug auf den Roman, an den realen Ereignissen und Dokumenten, die Leben, Gewissensnöte, Haftzeit und Tod des Ehepaares beleuchten. Der Joachim-Ringelnatz-Verein hat mehrere Gründe diese Ausstellung im Geburtshaus des zu zeigen.
Ringelnatz ist selbst auf eine gesundheitsbedrohliche Weise Opfer des Nazi-Regimes geworden. 1933 erteilen die Nationalsozialisten Ringelnatz Auftrittsverbote in Hamburg und München. In Dresden wurde er sogar von der Bühne geholt. Die meisten seiner Bücher wurden beschlagnahmt oder verbrannt. Ringelnatz und seine Frau verarmten, weil die Bühnenauftritte die Haupteinnahmequelle des Paares gewesen waren. Dem an TBC erkrankten Ringelnatz mangelte es an Mitteln, die Behandlung der Krankheit zu bezahlen. Ringelnatz starb am 17. November 1934.
Ringelnatz selbst hatte den Aufstieg der NSDAP allzu lange nicht ernst genommen. Noch 1930 schrieb er in einem Brief: „Der Hitler-Rummel lässt mich kalt.“ Er, der viel mit Freiheit und wenig mit Politik und Machthabern am Hut hatte, erkannte jedoch sehr schnell, daß es kein Sich-Heraushalten mehr geben konnte, nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren. Dies zeigt sich in einem nachgelassenen titellosen Gedicht, in dem es heißt
Wir sind, sagen die Lauen,
Wir sind nicht objektiv.
Wir sollten doch tiefer schauen,
Doch schauen, ob nicht tief
Am Nazitum was dran sei,
Ob Hitler nicht doch ein Mann sei.
Unrelative Lumpen hausen bei uns zu Haus,
Und hauen das Land in Klumpen.
Ist relativ der Graus?
Da sollen wir objektiv sein,
Wir sollen so naiv sein!
Wir kennen die einfache Wahrheit,
Wir sehn durch ein scharfes Glas.
Und unsere Lehre ist Klarheit,
Und unsere Klarheit ist Haß.
Der Haß, der groß und weitsichtig ist,
Der schaffende Haß, der wichtig ist.
Und es gibt einen dritten Grund. Es ist die Frage, die sich auch Christian Winterstein als Kurator dieser Ausstellung stellt: Hat das Handeln der Hampels für uns heute, 70 Jahre nach dem deutschen Faschismus, noch eine Bedeutung, und wenn ja, welche?
Wir meinen ja. Mein Gewissen rebelliert, wenn ich landauf landab die Plakate von Menschen, die sich zu einer Wahl stellen, mit dem Aufkleber Volksverräter verschandelt sehe. Wenn die Sprache und das Denken der Nationalsozialisten wieder hoffähig werden und gewählte Politiker laut von der tausendjährigen Zukunft Deutschlands reden – wohl wissend, was sie da herbeizitieren. Das Gewissen rebelliert, wenn dies alles relativiert und bagatellisiert wird, wenn Nachbarn, Bekannte meinen, in diesen Politikern hätten sie Vorkämpfer für ihren politischen Frust gefunden. Wir leben nicht in einer Diktatur. Unser wichtigster Wert ist die Demokratie, und Demokratie ist eben nicht nur Meinungsfreiheit, sondern vor allem eine Kultur, die mit Respekt, Wertschätzung und Gewaltfreiheit Meinungsbildung ermöglicht. Und gerade dafür haben wir alle eine Verantwortung. Diese Ausstellung macht uns das auf eine einprägsame Weise bewusst.
Die Schau entstand aufgrund der Zusammenarbeit des Joachim-Ringelnatz-Vereins Wurzen mit der Hans-Fallada-Gesellschaft Carwitz und wurde in dieser Form eigens für den Ausstellungsort in Wurzen konzipiert. Zeitgleich werden weitere Dokumente und Hintergrunde im Fallada-Museum in Carwitz gezeigt.
Die Stadt unterstützte das Zustandekommen mit Mitteln aus der Kulturförderung und Oberbürgermeister Jörg Röglin übernahm die Schirmherrschaft.
Der Joachim-Ringelnatz-Verein e.V. wurde 1992 in Wurzen (Sachsen) gegründet. Der Verein organisiert Kleinkunst, Ausstellungen, Vorträge, Lesungen und viele andere Veranstaltungen rund um Joachim Ringelnatz und dessen Geburtshaus in Wurzen sowie den alljährlichen RingelnatzSommer in Wurzen.
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