vor 1883
Das Gebäude sowie das angrenzende Areal mit Stallung und Garten ist das letzte Beispiel eines der Stadtgüter, welche die Stadt Wurzen über Jahrhunderte weg prägten. Das Wohn- und Geschäftshaus stammt aus dem Barock und ist klassizistisch überformt. Die ersten urkundlichen Nachweise finden sich ab 1511. Erbaut wurde es als Wohngebäude des ehemaligen Stadtgutes Schumann 1678. Die urkundlichen Besitzerwechsel weisen Bleicher, Färber, Transportleute sowie Ansätze zur Industrialisierung aus.
Genaue aktenkundliche Nachweise befinden sich in den Staatsarchiven Leipzig und Dresden, im Bauarchiv der Stadt Wurzen, sowie die ersten Nachweise im Lehnbuch des Bischofs Johann von Salhausen im Stiftsarchiv Wurzen.
1883 bis 1888
In dem Gebäude mit der Adresse Crostigall 14 wurde am 7. August 1883 der uns heute als Joachim Ringelnatz bekannte Hans Gustav Bötticher um „11 ¾ Uhr“ in einem Zimmer über dem Flur geboren, wie der Geburtsschein der Hebamme belegt (Original in der Gedenkausstellung).
Georg Bötticher, der Vater von Ringelnatz, war ein renommierter Musterzeichner, vor allem für Tapeten. Später war er ein angesehener humoristischer Schriftsteller, der Märchen, Balladen und schnurrige Gedichte auch in sächsischer Mundart schrieb.
1875 nahm Georg Bötticher das Angebot der Wurzener Firma August Schütz an, als Chefzeichner neue Muster für Tapeten zu entwerfen. Zu dieser Zeit war er bereits ein gefragter Fachmann und lieferte Entwürfe nach Paris, Schweden, Russland und Amerika.
1876 heiratete er Rosa Marie Engelhart, eine entfernte Verwandte. In Wurzen wurden ihre drei Kinder geboren: 1879 Wolfgang, 1882 Ottilie und am 7. August 1883 eben Hans Gustav, der sich ab 1919 Joachim Ringelnatz nannte. Die Familie Bötticher lebte in dem Haus noch weitere fünf Jahre, bis sie 1888 in die nahegelegene Messe- und Buchstadt Leipzig umzog.
ab 1944
Das barocke Stadtgut geht in städtischen Besitz über. Es kommt zur Einstellung des Gutsbetriebes. Im Ober- und Dachgeschoss befinden sich weiterhin Wohnungen. Ab Februar 1945 werden Flüchtlingsfamilien einquartiert.
Am Geburtshaus im Crostigall 14 erinnert seit 17. November 1945 eine Gedenktafel an den berühmten Sohn der Stadt. Diese Holzschnitt-Tafel wurde auf Initiative des damaligen Wurzener Museumsleiters Kurt Bergt im Beisein von Ringelnatz‘ Schwester Ottilie Mitter am 11. Todestag des Künstlers am Geburtshaus angebracht.
Der heutige Wurzener Ehrenbürger und Altunternehmer Dietrich Hoffmann zog 1948 mit seinem neu gegründeten Unternehmen HOFFMANN & CO. GMBH in das ehemalige Stadtgut Schumann im Crostigall 14 ein, in dem es bis zum Jahr 1952 verblieb.
In den 1950er bis 1980er Jahren befanden sich im Haus Miet- bzw. Betriebswohnungen.
Im Jahr 1970 gab es kleinere Baumaßnahmen am Gebäude, so die Stabilisierung des Giebels auf der Westseite, den Anbau der Toiletten, sowie das Zumauern des Einfahrtstores auf der Westseite.
Nach größeren Baumaßnahmen erhielt das restaurierte Geburtshaus im Crostigall 14 im Jahr 1983 zum 100. Geburtstag von Joachim Ringelnatz den Namen Ringelnatzhaus. Im Erdgeschoss befand sich bis 1998 in drei Räumen eine Gedenkausstellung des damaligen Kreismuseums.
Die ehemaligen Wohnräume im Obergeschoss nutzte der „Klub der Intelligenz Joachim Ringelnatz“ für Vorträge und Veranstaltungen und im Dachgeschoss waren das Kreissekretariat des Kulturbundes der DDR (bis 1990) und die Redaktion der Heimatzeitschrift „Der Rundblick“ (bis 1992) sowie des „Wurzener Tageblatts“ (bis 1993) untergebracht. Für diese Umnutzung des Gebäudes sind damals leider gravierende Eingriffe in die Raumstruktur des Obergeschosses erfolgt.
Nach der Wende und Wiedervereinigung musste der Kulturbund Wurzen im Dachgeschoss seine Arbeit einstellen und die Redaktion des Wurzener Tageblattes übernahm dessen Räume bis 1994. Mit der Auflösung des Kulturbundes einher ging auch die Aufgabe der Räume im Obergeschoss für kulturelle Veranstaltungen.
Auch im Jahre 1994 erzwangen Kostengründe die Schließung der Ringelnatzausstellung im Crostigall 14 und die Eingliederung der Präsentation in das Kulturgeschichtliche Museum in der Domgasse.
Nach der Rekonstruktion des historischen Museumsgebäudes in der Domgasse zog die Ringelnatz-Gedenkausstellung 1998 komplett in das Kulturgeschichtliche Museum Wurzen um. Gründe dafür waren sowohl die Kosten als auch die unzulänglichen klimatischen Bedingungen im Gebäude.
Von 2001 bis 2011 bezog die Ehe-, Familien-& Jugendberatungsstelle Räume im Ringelnatz Geburtshaus. Und zum Landeserntedankfest 2011 in Wurzen wurden die unteren beiden Räume als Schaufenster mit Fotos von Mobiliar und aus dem Leben von Joachim Ringelnatz gestaltet.
Aus dem der Stadt Wurzen gehörenden Ringelnatz-Geburtshaus zogen 2015 endgültig die letzten Nutzer aus. Das Haus hatte zwischenzeitlich keinen Wasseranschluss und konnte nicht genutzt werden. Seit Jahren scheiterte es an den Mitteln zur Sanierung und nachhaltigen Nutzung.
Als die Stadt Wurzen im Oktober 2015 Verkaufsabsichten ins Auge fasste, wehrte sich der Joachim-Ringelnatz-Verein e.V. dagegen und bat um Hilfe und Spenden, um das Geburtshaus wieder für Ringelnatz-Freunde in ganz Deutschland als literarischen Gedenk-, Begegnungs- und Forschungsort zu öffnen.
Mit einem Betreiberkonzept, an dem die Ringelnatzfreunde mehrerer Vereine gemeinsam arbeiteten, überzeugt der Ringelnatzverein im Mai 2016 die Stadträte, den Verkauf ad acta zu legen. Der Joachim-Ringelnatz-Verein übernahm per Betreibervertrag Öffnung und Betrieb des Hauses, im Gegenzug übernahm die Stadt die laufenden Betriebskosten und startete im Jahr 2019 mit der Sanierung des Hauses.